Sicherheit
Wenn ich von zu Hause in die Stadt gehe, muss ich bei der Brücke am Tannenwehr die Straße überqueren. Hier steht zwar eine Ampel.
Aber es passiert wirklich ausgesprochen oft, dass ein letztes, manchmal auch noch ein allerletztes Auto bei Rot einfach so durchbraust. Manche geben bei Gelb (auch bei „Dunkelgelb“) nochmal ordentlich Gas. Manche kriegen einfach gar nichts mit. Besonders die, die aus der Waldstraße kommen, fahren oft einfach weiter. Da muss man doch ‘was machen! Warum steht da eigentlich kein Blitzer? Schließlich gehen viele hier über die Ampel, nicht nur die üblichen Fußgänger, sondern auch die Schüler der Gymnasien, die behinderten Bewohner des „Hauses Daniela“ und die Kinder aus dem „Kindergarten St. Martin“.
Die Absicherung spielt in unserem Leben ja eine wichtige Rolle: Hausrat-, Haftpflicht-, Rechtsschutz-, Berufsunfähigkeits-, Lebensversicherung. Jeder Abhang, an dem man wegrutschen könnte, jedes alte Bauwerk ist mit einem Geländer oder Zaun gesichert. Alle Eventualitäten werden so weit wie möglich abgepuffert. Nur die Ampel am Tannenwehr scheint eine Ausnahme zu sein.
Wenn ich allerdings noch weiter nachdenke, aufmerksam werde, den Blick weg aus meinem kleinen Leben, hin in größere Zusammenhänge lenke, merke ich, wie wenig die uns doch so wichtige Absicherung wirklich funktioniert.
Schon bei einem kurzen blitzlichtartigen Blick in die Welt wird mir ganz beklommen: Jeden dritten Tag stirbt in Deutschland eine Frau durch ihren gewalttätigen Partner. Der Hass im Netz explodiert. Die Armen kriegen immer weniger vom großen Kuchen ab. Immer mehr leben in prekären Verhältnissen. Der Meeresspiegel steigt. Extremwetter-Ereignisse, Kriege, Armut, Menschenrechtsverletzungen gehören zur Tagesordnung, zwingen Menschen zur Flucht. Wohin man blickt in der großen Politik - überall Schreihälse, Lügner, erbarmungslose Despoten. In all das hineinverstrickt auch unser Land. Auch wir und unsere Kinder. Spätestens denen werden die heutigen Versäumnisse einmal auf die Füße fallen. Da muss man doch ‘was machen!
Es sieht ganz so aus, als sei unser Bemühen um Absicherung völlig hinfällig angesichts von so viel Bedrohung. Was nützt die schönste Versicherung wirklich, wenn uns das Wasser bis zum Halse steht, oder wenn mein Kind überfahren auf der Straße liegt?
Trotzdem, oder gerade deswegen, feiern wir Advent, die Zeit der Ankunft Gottes. Gott kommt nicht als starker Haudrauf und Kriegsherr, sondern als schwaches Kind. Christen glauben, dass trotz all der Gewalt, trotz aller Angst und Hilflosigkeit, Liebe in unserem Herzen und in unsere Welt einzieht. Auch gegen den Augenschein.
Es wirkt zunächst absurd, gerade die Liebe soll sich gegen all die Drohung, das Elend in der Welt durchsetzen? Advent - die Ankunft Gottes erwarten - heißt genau das: davon ausgehen und für wahr halten, dass diese vermeintlich absurde Liebe das letzte Wort hat. Nur so kann es gehen. Alles andere funktioniert ja erst recht nicht, sondern gebiert immer nur neues Unglück.
Diese Erwartung heißt nicht Abwarten und Tee trinken und sich damit begnügen, dass es der Herr schon richten wird. Sondern das heißt, jeder an seinem Platz kann versuchen, etwas Vernünftiges zu bewirken. Und sei es der Blitzer am Tannenwehr. Da muss man doch ‘was machen!