Die tiefere Wahrheit dahinter

Da ist was los in dieser stillen Zeit:


Süßer klingen die Glocken nie, Glühweinseligkeit und pfundweise gebrannte Mandeln, die stille Nacht wird aus tausend Lautsprechern auf Marktplätze geschmettert, rund um die Tannenbäume strahlt und blinkt die Weihnachtsbeleuchtung. Strompreis hin, Energiekrise her, wir sind im Weihnachtsfeier-Modus. Fast so, als wären wir wirklich erfüllt von der frohen Botschaft, dass das Heil in unsere Welt kommt. Mir ist von all dem innerlich oft ganz klebrig zumute.

Wie alle Jahre wieder, so winkt auch dieses Jahr die herbeigesehnte Chance aufs große Geschäft, ein ordentlicher Schub für den lahmenden Konsum. Die Christenheit freut sich –und die anderen auch. Bei uns ist alles geritzt, sofern wir nur das Privileg haben, dazuzugehören - na, zumindest einigermaßen. Vom holden Knaben im lockigen Haar lassen wir uns als Dreingabe noch heimelige Gefühle erwecken. Und die gibt es noch oben drauf, sogar umsonst. Nötig dazu ist lediglich: Augen zu! Ohren zu! Mitgefühl weg! Kritikzentrum ausschalten!

Die Nachrichten und Schrecklichkeiten haben wir ja dauernd vor Augen: Den Krieg, nur einige hundert Kilometer entfernt. Die mangelnden Erfolge auf der Klimakonferenz (wieder nichts!, als hätten wir noch so viel Zeit). All das Leid, das gerade geschieht. Unterdrückte, Ertrinkende, Er- schossene, Gefolterte und dazu noch all das, dass in nicht ferner Zukunft droht. Das will man doch nicht immerzu im Kopf haben müssen. Und gerade jetzt im Advent kann‘s doch einfach auch mal muschelig und behaglich sein.

In der Kirche ist der Advent zunächst etwas ganz anderes: eine Fasten- und Bußzeit. Christus ist eben noch nicht da. Kein "Eia popeia vom Himmel". Wir warten. Auch wenn’s zunächst lust- und spaßfeindlich klingt, ist mir dieses ursprüngliche Verständnis - Advent als Wartesaal - viel näher und wahrhaftiger.

Wir ersehnen die Ankunft Gottes und wir haben es schwer damit, dass er immer noch nicht da ist. Das verheißene Friedensreich, wo der Löwe neben dem Lamm weidet und alle Tränen abgewischt werden, scheint in sehr weiter Ferne zu liegen. Die Hoffnung darauf trotzdem beizubehalten, das ist manchmal nahezu unmöglich. Viel leichter und angenehmer scheint es, wenn ich mich schwiemeligem Weihnachtskitsch hingebe. Nur, es bleibt dann eben dieses schale Gefühl.

Und doch hoffe ich (oft mit wenig Hoffnung), dass hinter allem Schrecken der momentanen Wirk- lichkeit die tiefere Wahrheit Gottes liegt, dass die Liebe siegt und nicht der Hass und die Zerstö- rung. Mehr als diese Hoffnung in meiner Seelentiefe ist es nicht. Aber ich glaube, diese kleine Hoffnung kann ganz viel sein.

Manchmal, wenn‘s gutgeht, geht von ihr eine große Kraft und ein Leuchten aus. Es muss nicht alles bleiben, wie es ist. Veränderung ist möglich. Eine Garantie dafür gibt es allerdings nicht. Es gibt hier keinen Automatismus.


Übrigens: Wenn ich mir mein Kritikvermögen bewahre, dann kann ich natürlich, auch mit Behagen ein Glas Glühwein auf dem Weihnachtsmarkt trinken, und das mit Genuss.


Hans-Jürgen Freitag, Kantor in Ilmenau