Die eigene Partitur

Das Leben von Vater (81) hat sich verändert.


Seit seinem Halswirbelbruch und dem künstlichen Koma, der Operation mit Luftröhrenschnitt und den langen Zeiten auf der Intensiv, seitdem sind alte Selbstverständlichkeiten dahin. Durch Mund und Nase atmen übernimmt jetzt die Trachealkanüle. Mit dem Mund essen und trinken die Magensonde. Mutter kommt fast jeden Tag, zu nächsten Menschen aber sind ihm
die Schwestern geworden, 24h-Pflege in der neuen 23m²-Wohnung mit Küchenzeile und Fernseher. Wie viele solcher Wohnungen es wohl gibt, die heute stumm die alten Erzählungen vom Leben beherbergen?

Vater hat schon viel Besuch bekommen. Und manchmal meine ich in den Gesichtern derer, die da um sein Bett stehen, die unausgesprochene Frage zu lesen: Ist das noch ein Leben? Wenn scheinbar nichts mehr geht und ein Mensch nur noch angewiesen ist? Aber so ist es ja nicht. Als Vater nach 6 Monaten und mit Hilfe eines Sprechaufsatzes erstmals wieder einen Laut, ja ein Wort (allo – ohne H) von sich geben konnte, da war das wie Auferstehung. Seitdem üben wir regelmäßig sprechen, mit den Namen der Familienmitglieder geht das ganz gut, auch an die Orte seiner Kindheit kann die Erinnerung anknüpfen.

Nicht immer kann sie das. Und vor allem nicht lange. 10 Worte in einer halben Stunde, eine Leistung wie früher ein 8-Stunden-Tag als Schlosser. Dann fallen die Augen zu. Vor ein paar Tagen haben wir angefangen, alte Liedstrophen nachzusprechen. Vater hat 50 Jahre im Männerchor gesungen und kennt ein unglaubliches Repertoire. Ich beginne: In einem kühlen Grunde… Er, gebrochen: da geht ein Mühlenrad. Ich: Mein Liebchen… Er: ist verschwunden, das dort gewohnet hat. So geht das alle 3 Strophen.

Ich bin außer mir vor Freude. „Vater, schaffst du noch ein Lied?“ Seine Augen verraten es. Wieder beginne ich: Nun leb wohl… dann hebt der alte Mann unvermittelt zu singen an: du kleine Gasse... Gemeinsam singen wir weiter: Nun leb´ wohl, du stilles Dach... das ganze Lied. Vater’s Singen war kein Vergleich zu früher, war keine Kunst, keine Kantate. Eher ein Geräusch, ein Raunen und Nachahmen. Und als solches der Laut seines Lebens, die eigene Partitur. Singet dem HERRN ein neues Lied, denn er tut Wunder (Ps 98).

Thomas Kratzer, Pfarrer im Marienstift Arnstadt