10.11.2021
Gemeinsam einstehen

Zum Gedenken an die Opfer der Reichspogromnacht 1938 hat Superintendentin Elke Rosenthal am 09.11.21 in Arnstadt eine Ansprache am Gedenkstein der zerstörten Synagoge gehalten. Die Rede im Wortlaut:

Liebe Schwestern und Brüder,

die Anrede – Schwestern und Brüder - ist bewusst gewählt. Es ist die Perspektive der Thora auf die Menschheit.

In den ersten Kapiteln erzählt die hebräische Bibel die Menschheitsgeschichte als eine große Familiengeschichte. Der Mythos spricht von Gott wie von einem Künstler, der aus Erde eine Gestalt erschafft. Einen Erdling, Adam, aus adamah, hebr. Erde, geformt. Erst, als die zweite Gestalt aus der ersten entsteht, sind sie Mann und Frau. Von Gott verletzlich und endlich erschaffen, mit Würde und mit Schönheit ausgestattet.
Im Mythos gehen alle Menschen auf diese Erdlingspaar zurück.

Adam und Eva sind wir also alle. Alle Menschen, unabhängig von Herkunft, Religion, Nationalität, Hautfarbe, Geschlecht. Diese jüdische Grundüberzeugung hat es bis in unser Grundgesetz geschafft: Die Würde des Menschen ist unantastbar.

Ob in China geboren, als Inuit in Kanada, in der Sahelzone, in Afghanistan, im Iran oder in Europa. Die Thora erzählt schon im Mythos: Menschenrassen gibt es nicht. In ihrer Buntheit, in ihrer Verschiedenheit sind doch alle Geschwister, alle geliebt und gewollt. Und alle zur Liebe fähig und zum Hass. Der erste Mord ist ein Brudermord. Jeder Mord ist ein Brudermord.

So stehen wir also heute hier, als Exemplare der Einen Menschheit, und gedenken. Wir gedenken jener unsäglichen Nacht, in der Bürgerinnen und Bürger jüdischen Glaubens aus Arnstadt ihrer schönen Synagoge beraubt wurden. Niedergebrannt wurde sie, die gerade erst 25 Jahre jung war. Und mehr noch: Jüdinnen und Juden wurden in dieser Nacht geschlagen, verhöhnt, verhaftet, in unserem Rathaus gequält, geschlagen, verhört, viele von ihnen in den nächsten Tagen und Wochen ins Konzentrationslager nach Buchenwald gebracht. Diese Nacht war der Anfang der systematischen Vernichtung.

Es ist gut, hier gemeinsam zu stehen. Über Parteien und Weltanschauungen und Religionszugehörigkeiten hinweg darin hoffentlich verbunden: So etwas darf nicht wieder geschehen. Wir stehen hier zusammen, weil wir nicht vergessen dürfen. Wir stehen wir zusammen, auch, weil wir uns gegenseitig stärken müssen gegen einen wieder aufkeimenden Antisemitismus, der unverhohlen agiert und immer abstrusere Formen annimmt. Es ist gerade so viel Irrationales unterwegs.

Darum brauchen wir Klarheit, Entschiedenheit, Information, Bildung, Kreativität. Und Herzensbildung.

Als ich vor wenigen Wochen zum ersten Mal den Milchhof besuchte – zur Eröffnung der Ausstellung über die Synagogen in Thüringen -, trat ich ein und es verschlug mir fast den Atem – ich schaute in die Gesichter der feiernden jüdischen Gemeinde,– etwa 60 fröhliche, verkleidete Menschen, aufgestellt zu einem heiteren Gruppenfoto. Ich kannte ja das Foto vom Purimball in Arnstadt 1927, doch nur in kleinem Format. Dieses jedoch ist in Lebensgröße der fotografierten Menschen an einer ganzen Wand angebracht – und es war mir - als wären sie da. Da war sie, die jüdische Gemeinde, und sie nahm den Platz ein, der ihr genommen wurde.

Vielleicht kennen Sie das, dass auf einmal etwas anders wird. Wenn etwas unter die Haut geht. Wenn etwas aus dem Kopf ins Herz rutscht, und wirklich berührt.

Als ich letztes Jahr, noch ganz neu in Arnstadt, durch die Stadt spazierte, um sie zu erkunden, war ich natürlich auch auf dem Alten Friedhof, entdeckte die Gräber der Bachfamilie, schaute in die schöne Himmelfahrtskirche und stand schließlich zum ersten Mal hier - vor dem Gedenkstein für die Synagoge. Ich las den Text der Tafel:

„Unweit dieser Stelle befand sich die Synagoge der jüdischen Gemeinde Arnstadt, die am 27.09.1913 geweiht wurde. In der Pogromnacht am 9. November 1938 wurde sie durch die Faschisten zerstört. Vergesst es nie!“

Unweit dieser Stelle, Ja, wo denn genau?  fragte ich mich. Und sah mich um, ging auf Spurensuche, hier hin und dorthin – und was heißt denn „unweit“? ich suchte nach Spuren, fand aber keine. Fragte mich: Warum wird der richtige Standort nicht gezeigt?

Heute weiß ich mehr. Dank einiger Menschen, die sich schon länger mit dem jüdischen Leben in Arnstadt beschäftigen: Jörg Kaps und meine Nachbarn auf dem Pfarrhof. Es war Superintendent Wolfgang Tittelbach-Helmrich, der das Aufstellen des Gedenksteins angeregt hatte und den Stadtrat dafür gewinnen konnte. Das war 1988, 50 Jahre nach der Zerstörung der Synagoge. Ich vermute, dies war ein Riesenschritt. 43 Jahre lang - gab es keine Markierung des Unrechts.  

Heute träume ich davon – und ich freue mich, dass ich mit dem Traum nicht allein bin - dass der tatsächliche Platz der Synagoge in der Krappgartenstr. 47 erkennbar wird. Lesbar. So etwa:

Hier stand das Gotteshaus der jüdischen Gemeinde. Arnstadts Synagoge. Und so sah sie aus. Hier beteten Menschen. Hier priesen sie den Einen Gott. Hier suchten sie Schutz und Zuflucht. Hier beteten sie für ihre Stadt. Hier feierten sie. Hier dankten sie. Hier trauerten sie. Hier suchten sie Hoffnung.

Ihr Gotteshaus wurde zerstört. In der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 brannten Nationalsozialisten diese Synagoge nieder, wie fast alle Synagogen in unserem Land. Die Feuer wurden nicht gelöscht. Die Menschen ließen das Unrecht geschehen.
Seitdem gibt es keine jüdische Gemeinde mehr in Arnstadt.

Ist jetzt die Zeit gekommen, das Unscharfe scharf zu stellen? Dem Gedenken den wirklichen Ort zurückzugeben? Dann hätte die vage Ortsbeschreibung auf der Tafel ihren Sinn erfüllt und eine lange Zeit überbrückt, indem sie durch ihre Unschärfe das Nachfragen wachhielt.
Ich wünsche uns den Mut, diese Vision zu verwirklichen – für die Menschen, die heute in Arnstadt leben, für die Menschen, deren Vorfahren in der Synagoge ein- und ausgingen, für die vielen Touristen, die wiederkommen werden, wenn die Pandemie vorbei ist und auch für die Neu-Arnstädter, die wie ich vor dem Gedenkstein stehen und fragend umherblicken.

In der Theologie gibt es die Rede vom Kairos. Das ist der richtige Zeitpunkt. Vielleicht ist er jetzt da.  

Die Achava-Festspiele haben in diesem Jahr zum zweiten Mal auch in Arnstadt stattgefunden. Achava ist ein Kreativitätsschub für die Erinnerungskultur. Die Kooperation mit der Musikschule hatte viel positive Resonanz. Die Gespräche mit den Überlebenden in der Liebfrauenkirche bleiben eindrücklich.

Ich unterstütze die Idee des Bürgermeisters, einen Verein zu gründen, der sich des jüdischen Lebens in Arnstadt annimmt, der die Erinnerungskultur weiterentwickelt, der die Menschen verbindet, die mit diesem Thema unterwegs sind, der Kooperationspartner zusammenbringt, Kräfte bündelt, Öffentlichkeitsarbeit voranbringt, Spenden sammelt, Bildungsarbeit unterstützt und daran arbeitet, der Erinnerung an die Synagoge ihren wirklichen Standort zurückzugeben.

Ich danke für Ihr Zuhören.