Baustellenbesichtigung

Durch manche Familien geht ein Riss.
Impfgegner gegen Impfbefürworter.
Maskengegner gegen Maskenbefürworter.
Oft ist kein Gespräch mehr möglich.

In den sozialen Netzwerken werden Menschen mit Hass überschüttet, wenn sie andere Meinungen vertreten.

In Israel entbrennt ein neuer Krieg.

Konflikte kochen hoch.
Wir sind gereizt, genervt und müde. Kein Wunder.


In ihren ersten 11 Kapiteln erzählt die Bibel von den Herausforderungen des Menschseins. Von dem, wer wir sind und wozu wir fähig sind:
Zu herausragenden Leistungen und zu abgrundtiefen Verbrechen.  Zu Liebe und zu Hass. Und es wird erzählt, wie unglaublich schwer es ist, einander zu verstehen.

Immer erzählen diese Geschichten auch von Gott.
Wer GOTT ist und wozu ER fähig ist:  
Bevor irgendetwas wurde,
schwebte sein Geist über den Wassern.
Später über Wäldern, Wiesen, Feldern.
Und über den Ruinen, die die Menschen hinterlassen.

Die Geschichten erzählen,
wie GOTT die Menschen als Kunstwerke von seiner Hand erschafft. Wie er ihnen liebevoll den Lebensatem einhaucht.
Wie er sie ruft im Garten Eden,
sie sich aber vor ihm verstecken.
Wie er sie rausschmeißt aus dem Paradies,
und sie dennoch fürsorglich kleidet, als sie realisieren, dass sie nackt sind.

Die Erzählung vom Turmbau ist die letzte der biblischen Ur-Erzählungen. Es ist eine jüdische Geschichte, Teil der hebräischen Bibel. Überall dort, wo der Gottesname steht, lese ich ADONAJ, weil Jüdinnen und Juden den Gottesnamen nicht aussprechen, sondern voller Respekt umschreiben.

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Predigttext        1. Mose 11, 1-9

1 Die ganze Erde hatte eine Sprache und eine Wortmenge.
2 Und es war beim Aufbrechen aus dem Osten,
da fanden sie eine Ebene im Lande Schin´ar und sie ließen sich dort nieder.
3 Und sie sagten einer zum Nächsten:
„Auf! Lasst uns Backsteine backen und mit Brand brennen!“
Und es diente ihnen der Backstein als Baustein,
und der Asphalt (hebr. chemar) diente ihnen als Mörtel (chamor).
4 Und sie sagten:
„Auf! Lasst uns für uns eine Stadt und einen Turm bauen,
dessen Spitze im Himmel ist, sodass wir einen Namen haben,
damit wir nicht zerstreut werden auf den Flächen des ganzen Landes.“

5 Da stieg ADONAJ herab, um die Stadt und den Turm zu sehen, die die Menschenkinder bauten.
6 Und ADONAJ sagte:
„Sieh, ein Volk und eine Sprache haben sie alle,
und das ist nur der Anfang ihres Tuns. Und jetzt:
7 Auf! Lasst uns herabsteigen, und lasst uns dort ihre Sprache vermischen, dass keiner die Sprache des Nächsten versteht.“
8 Und ADONAJ zerstreute sie von dort über die Flächen der ganzen Erde. Und sie hörten auf, die Stadt zu bauen.

9 Deshalb nennt man ihren Namen Babel.
Weil ADONAJ dort die Sprache der ganzen Erde vermischt hatte, und von dort hat ADONAJ sie zerstreut:
Über alle Flächen der ganzen Erde.

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Gott macht eine Baustellenbesichtigung.

Das ist jüdischer Humor:
Die Menschen errichten von unten einen Turm, der bis in den Himmel reichen soll – und Gott muss aus dem Himmel erst mal nach unten kommen, um ihn überhaupt sehen zu können.

„Da stieg Adonaj herab, um die Stadt und den Turm zu sehen“

Er hört die Menschen sprechen. Seltsam gleichförmig klingen ihre Worte. Sie sprechen eine Sprache. Der Wortschatz ist klein. Lauter Parolen und Befehle. Es scheint nur ein „WIR“ zu geben und kein „Ich“.

Uniform klingt das, fast schon totalitär. Das System funktioniert. Einige sagen an, andere schuften.
Der Besucher der Baustelle stellt fest:
„Sieh - ein Volk und eine Sprache haben sie – und das ist nur der Anfang ihres Tuns“.

Gott zieht die Notbremse.
Wieder bewahrt er die Menschheit vor Unheil. Dass Menschen einförmig als ein Volk und in einer Sprache reden, kann nicht gut gehen. Es gibt keine Einzelnen, keine Individuen, sondern nur Menschen, die im großen Ganzen aufgehen. Sie ordnen sich dem einen Ziel unter.

Wie die Befehlshaber der Menschen benutzt jetzt GOTT den Majestätsplural, denn ER beansprucht die Macht: "Auf! Lasst uns herabsteigen, und lasst uns dort ihre Sprache vermischen, dass keiner die Sprache des Nächsten versteht.“

Die Baustelle versinkt im Chaos, die Verwirrung ist groß. Keiner versteht mehr den anderen. Befehl und Gehorsam funktionieren nicht mehr. Das System ist gestört. Es geschieht, was verhindert werden sollte: Die Menschen zerstreuen sich über die ganze Erde.

Willkommen in der Realität!

Und in der Vielfalt. Gott will es bunt.
Mann und Frau und manches dazwischen.
Unzählige Sprachen und Dialekte.
Keine von Angst gesteuerte Diktatur,
keine Uniformität, sondern Individualität.

Mit der Vielfalt rettet Gott die Menschen vor sich selbst. Vor ihrer eigenen Überheblichkeit: Dass sie den Himmel erobern und sich als Götter aufspielen. Gott setzt ihnen Grenzen:
Ihr sollt nicht ewig leben.
Ihr sollt nicht alles machen, was Ihr könnt.
Eure Erfolge sollen Euch nicht zu Kopfe steigen.
Euer immer höher, immer schneller, immer mehr,
geht auf Kosten der Natur, auf Kosten der Schönheit des Lebens. Merkt Ihr das nicht?

Gott beschäftigt die Menschen von nun an mit der Kommunikation:

Lernt erstmal, Euch wahrzunehmen.
Euch zuzuhören. Euch zu entdecken.
Lernt Eure Vielfalt schätzen. Merkt, wie schön meine Schöpfung ist, die Ihr systematisch zerstört.
Freut Euch, wenn Euch etwas gelingt.
Wenn Ihr es schafft, einen Impfstoff zu entwickeln.
Aber vergesst nicht, woher Ihr die Fähigkeiten und Kompetenzen und die Ressourcen dafür habt.
Bleibt auf dem Teppich.
Und dient einander! Unterstützt Euch!
Teilt, was an Gutem entsteht, mit allen Menschen!

Heute feiern wir zusammen Gottesdienst - neben der Ruine der Klosterkirche Paulinzella. (Ein bisschen erinnert sie ja an Babel). Als Verstreute sammeln wir uns an diesem schönen Flecken Erde. Mit Masken, auf Abstand: Die Gefahr ist noch nicht gebannt.

Der Geist Gottes bringt uns zusammen. Wie damals in Jerusalem, beim ersten Pfingstfest. Die Jüngerinnen und Jünger Jesu trauten sich wieder raus. GOTT hat in ihnen neues Feuer entfacht.

Draußen sprachen sie die Menschen an. Nicht in einer Einheitssprache. Nicht mit Kommandos. Sie nahmen die Vielfalt und Buntheit der Welt an, alle Uniformität ist abgelegt. Vielleicht fragten sie die Menschen, wie es ihnen geht. Und sie verstanden ihre Antworten. Irgendwie gelang die Kommunikation. Kein Mensch kann es erklären. Da war ein guter Geist! Ein Geist der Verständigung!

Das tröstet mich.
Es tröstet mich, dass der Geist des Trostes gekommen ist.
Die Jünger haben so auf ihn gewartet, ihn herbeigesehnt.
 
Auch wir haben Ängste ausgestanden, wir haben Menschen verloren, wir haben unseren Kindern und unseren Eltern nicht das geben können, was sie gebraucht hätten. Unseren Freunden nicht, unseren Gemeinden nicht.
Wir erleben Vereinzelung. Einsamkeit. Distanz. Sitzen allein vor dem Bildschirm, die anderen sind Kacheln in der Galerie. Seniorinnen und Senioren warteten in Heimen, abgeschirmt von der Welt. Und so viele Menschen sind einsam gestorben!

Der Geist Gottes schwebt über all dem. Über den Wassern und Wäldern, Wiesen und Feldern. Über den Gräbern und den Ruinen.

GOTT kommt runter. Zur Baustellenbesichtigung.
Zu den übriggebliebenen Jüngerinnen und Jüngern.
Er kommt durch geschlossene Türen und Fenster.
Und er bringt uns wieder zusammen.

Das macht Gottes Geist. Wir brauchen uns nicht anzustrengen. Der Alltag ist gerade noch anstrengend genug. So ist es doch immer: Das Wichtigste im Leben bekommen wir geschenkt – ohne unser Zutun.

Die Jünger haben einfach gewartet.
Bis sie neues Leben in sich spürten.
Da wussten sie:
Keine Minute hat GOTT uns alleine gelassen.

Elke Rosenthal, Superintendentin des Kirchenkreises Arnstadt-Ilmenau