Ankommen

In diesem Sommer hatte ich das Glück, gleich mehrere Mehrtagestouren zu Fuß unternehmen zu können:

ein verlängertes Wochenende im Hochgebirge in Tirol, eine wirklich lange, großartige Wanderung von Ilmenau nach Oberbayern und dann noch ein paar Tage durch den Steigerwald.
Erfüllend und schön ist das, trotz mancher Unbequemlichkeit - Regen, Gewitter, manchmal knallende Sonne; trotz müder Beine und ärgerlicher Verirrungen (mancher Umweg ist wirklich sehr, sehr unfreiwillig). Das Leben wird beim Wandern so einfach - morgens nach dem Frühstück den Rucksack aufsetzen, gehen, abends ankommen, ausruhen, essen, ein bisschen reden, schlafen. Zwischendurch ein paar Pausen und allenfalls die Übernachtung für die nächsten Tage organisieren (das war die einzige planerische Herausforderung).

Uns wurde dabei sehr deutlich, dass der Mensch einfach nicht gemacht ist, um stundenlang am Schreibtisch zu sitzen und dann sogar noch abends in eine rechteckige Flimmerkiste zu gucken. Durch’s Gehen wird der Körper stabiler, die Seele wird leichter und der Kopf wird frei, immer vorausgesetzt, man ist einigermaßen gesund. Wahrscheinlich hat uns der liebe Gott zunächst als gehende Menschen gemeint. All die anderen Tätigkeiten kommen dann dazu. Natürlich lassen die sich nicht vermeiden. Sie gehören ja zu meinem Leben dazu. Schließlich muss man auch Geld verdienen – und oft machen sie ja auch Spaß.

Aber es ist schon so, wie es in einem Abendlied des Dichters Gerhard Tersteegen heißt “... ein Tag, der sagt dem andern, mein Leben sei ein Wandern zur großen Ewigkeit.“ Die mehreren hunderttausend Jahre, in denen der Mensch als Jäger, Sammler und Nomade durch die Welt zog, sind sehr viel prägender als die vergleichsweise kurze Periode der Sesshaftigkeit. In der Bibel begegnet uns das im Bild vom wandernden Gottesvolk.

Bei unserer großen Sommertour waren wir meistens unterwegs auf einem der vielen Jakobswege, die auch durch Deutschland laufen. Kurz hinter Lichtenfels sind wir an einem schönen Rastplatz im Wald auf einen Gedenk-Stein gestoßen. Ohne Punkt und Komma war da in Großbuchstaben ein Spruch eingemeißelt, über den ich seitdem immer wieder nachdenken muss: BEEILE DICH NICHT DENN DA WO DU ANKOMMEN MUSST DAS IST IN DIR SELBST.

Ist das wirklich so? Ist mein vieles Hetzen und Tun vielleicht gar nicht so wichtig und bedeutend, wie ich meine? Und, wenn es so ist - was passiert denn dann, wenn ich in mir ankomme?
Ich denke, hier ist nicht gemeint, die Hände in den Schoß zu legen und von nun an nur noch meditativ der Welt abhanden zu kommen.

Vielmehr: In Ruhe und Gelassenheit losgehen und darauf vertrauen, dass nicht in der fortwährenden Aktion, sondern letztlich in mir selber ein Funken des Göttlichen, eine Ahnung von Sinn zu finden ist. Oft ist das verdeckt durch all das Viele, das immer zu tun ist, das eben auch getan werden muss.

Aber möglicherweise ist hinter und unter dem ganzen Gewirbel und Gewimmel in meinem Leben eine viel tiefere und gültigere Wahrheit zu finden. Beeilen muss ich mich bei diesem Weg vielleicht nicht, aber ich muss mich aufmachen.

Hans-Jürgen Freitag, Kantor in Ilmenau