Was gut ist
Als Grundschüler in der DDR habe ich in einem feierlichen Akt von meiner Klassenlehrerin den Pio- nierausweis überreicht bekommen.
Darin waren zehn Gebote abgedruckt, die damit begannen: „Wir Jungpioniere lieben unsere Deutsche Demokratische Republik.“ (1. Gebot). Es handelte sich um eine kindliche Adaption der sogenannten „Zehn Gebote der sozialistischen Moral“, mit denen Walter Ulbricht versuchte, den biblischen Dekalog der Bibel zu ersetzen.
Von den Tafeln und der Geschichte des Mose hatten wir Kinder freilich auch schon gehört in der Christenlehre: „Ich bin der Herr, dein Gott, der ich dich aus dem Lande Ägypten, aus dem Sklavenhause, herausgeführt hat.“ (1. Gebot, Ex 20,2). Es ist bis heute interessant zu sehen, wie sich ein sonst religionskritisch gebendes sozialistisches Bewusstsein hier am Original orientierte.
Scheinbar meinte man auch in der DDR seinem Volk ausdrücklich sagen zu müssen, was gut für es ist. Deshalb also: Du sollst..., beginnend vom ersten bis zum zehnten Gebot, immer wieder: Du sollst! Freilich hat man damit geflissentlich übersehen, dass das erste der Zehn Gebote der Bibel gar nicht mit „Du sollst ...“ beginnt und recht verstanden überhaupt kein Gebot ist. „Ich bin der HERR, dein Gott ...“ setzt an mit einer Erfahrung, die Menschen mit Gott gemacht haben, der Erfahrung von Freiheit.
Bevor der HERR als Gebieter seinem Volk und Geschöpf gegenübertritt, ruft er sich als der Gott in Erinnerung, der dieses Volk befreit hat und sich weiterhin für diese Freiheit verantwortlich weiß. Sprengkraft allemal! Ob das die Oberen in der DDR geahnt und also recht verstanden haben, dass – wer sich auf die Zehn Gebote beruft und willig ist, sie zu befolgen – unweigerlich verstrickt wird in die Geschichte der Freiheit?
Im 139. Psalm kann es von Gott heißen: „Von allen Seiten umgibst du mich und hältst deine Hand über mir“. Von der dem Menschen zugedachten Freiheit muss es heißen, dass sie von allen Seiten bedroht und also eine gefährdete Freiheit ist. Aber eben nicht nur von außen: gefährdet ist die Freiheit vor allem von dem rücksichtslosen Gebrauch, den wir oft von ihr machen (Ich zuerst) und der keine Grenzen achtet.
Darum begrenzt das auf die Freiheitserfahrung folgende „Du sollst“/“Du sollst nicht“ (4.-10.Gebot) von jeher unseren Drang in die zerstörende Rücksichtslosigkeit. Es will meinen Nächsten schützen. Und es ist bis heute gut, dass uns das gesagt ist.
Thomas Kratzer, Pfarrer in Arnstadt