Übergänge

In jedem Leben gibt es sie. Manche feiern wir. Andere betrauern wir: Übergänge.

Wir verabschieden uns. Und beginnen neu. Wir lösen uns und binden uns wieder.
Umzüge. Schulwechsel. Kinder ziehen aus. Menschen sterben und neue werden geboren.

Übergänge sind schwer. Wir als Kirche stehen Menschen in Übergängen zur Seite:
Taufe ist das Fest des Willkommens.
Konfirmation der Übergang ins Erwachsenenleben.
Wir segnen Liebende.
Bei der Beerdigung legen wir einen Menschen in Gottes Hände.

Als Gemeindepfarrerin liebte ich einen Gottesdienst besonders: Die Segnung der Erstklässler. Großer Gottesdienst im Freien. Mit Eltern, Großeltern, Geschwistern, Lehrerinnen und Erziehern, Förderverein … Großes Kino. Das Wichtigste waren die Segenskreise. Die Lehrerin einer Klasse rief ihre neuen Schülerinnen und Schüler einzeln mit Namen. Jedes Kind legte Schultüte und Schulranzen ab und trat in den Kreis zur Lehrerin. Als alle neuen Kinder im Kreis angekommen waren, ging ich in den Kreis, legte jedem Kind, jeder Person im Kreis die Hände auf und segnete sie. Dann ging die Gruppe zum ersten Mal in die Klasse.

Nach den Kreisen der "Ersties" lud ich in einen weiteren Segenskreis ein – alle, die etwas Neues beginnen würden.  Alle, die gerade eine Veränderung erlebten. Sie kamen: Mütter, Väter, Großeltern, neue Lehrkräfte, Menschen, die die Arbeit wechselten, … Kinder, die auf eine andere Schule gehen würden… Manche sagten leise und mit Tränen in den Augen, wofür sie den Segen erbaten. Die, die sitzengeblieben waren, sangen und spürten auch, wie tief das ging. Häufig habe ich wenige Wochen danach erlebt, dass Eltern kamen und sagten: Wir möchten unser Kind taufen lassen.  

Übergänge. Für viele Übergänge gibt es schöne liturgische Formen: Segensworte, Bibelverse, Segen to go. Für unseren Anlass – Gemeinden wechseln den Kirchenkreis – haben wir so etwas nicht gefunden.

Mitten in unsere Situation hinein spricht das Evangelium (Matthäus 9, 9-13):
Jesus sah einen Menschen. Das, liebe Gemeinde, ist schon Evangelium pur.
Jesus sieht ihn, kennt seinen Namen und erkennt mit einem Blick seine ganze Lebenssituation. Er weiß, wie tief Matthäus gesunken ist. Als Zöllner beutet er die Leute aus. Er arbeitet für die Besatzungsmacht, die Römer. Er ist sowas wir ein Verräter. Er ist unten durch bei den Leuten. Seinen Kontakt haben alle blockiert.
 
„Da sah er einen Menschen“.
Jesus sieht auch uns.
Er kennt auch unsere Geschichten.
Weiß um unsere Sorgen.

Sein Blick ist barmherzig. Warmherzig. Er befiehlt nicht. Er kontrolliert nicht. Er liebt und versteht. Er weiß, was ich brauche. Er sieht meine Fehler und meine Defizite, meine Schuld. Und meine Angst.

Da sah er einen Menschen am Zoll sitzen, der hieß Matthäus: und er sprach zu ihm: Folge mir! Und er stand auf und folgte ihm.

Matthäus hört zwei Worte: Folge mir! Und er steht auf und tut, was ER sagt. Hat er keine Bedenken? Wägt er nicht ab? Die Pros und die Cons? Kein Zögern? Er stellt auch keine Fragen. Etwa: Wohin soll ich dir folgen? Was hast du vor? Worauf lasse ich mich ein?

Ehrlich, bei uns lief das anders. Meine Kinder haben selten sofort getan, was ich ihnen sagte. Da wurde diskutiert, gestritten, da wurde es auch schon mal laut, da knallten Türen, da blieb eine einfach im Bett liegen oder schloss ihre Tür zu. Da steht man dann da und weiß nicht mehr weiter.

Ich bin froh, dass die Gemeindekirchenräte abgewogen haben, ob sie den Kirchenkreiswechsel vollziehen wollen. In der Pandemie, im Herbst 2020, hatten wir uns erstmals digital getroffen. Ich war erst wenige Monate im Amt. Und im Sommer 2021 gab es ein erstes Treffen - live - in Gräfenroda. Da habe ich auch zum ersten Mal die wunderbare Orgel gesehen und gehört.
In unserem Kirchenkreis war die Welt noch in Ordnung – alle Stellen waren besetzt. Wir waren guter Dinge.

Bevor die Landessynode im vergangenen Herbst dann über den Antrag der Gemeinden abstimmte, hab ich noch einmal mit den Gemeindekirchenräten gesprochen. Inzwischen hatte sich einiges verändert: Im Kirchenkreis Arnstadt-Ilmenau sah es nicht mehr so rosig aus, und außerdem waren wir mit den beiden Kirchenkreisen Waltershausen-Ohrdruf und Gotha in Gespräche über eine gemeinsame Zukunft eingetreten. Machte der Wechsel des Kirchenkreises jetzt noch Sinn?  Ich stellte den Ältesten der Gemeinden die neue Situation dar und fragte: Wollt Ihr es noch? Sie besprachen sich und sagten dann: Ja, wir bleiben dabei. Sie haben sorgsam abgewogen.

Bei Jesus und Matthäus wird der Entscheidungsprozess anders erzählt: Jesus ruft und Matthäus folgt. Zack zack.
Und Gott sprach: Es werde Licht. Und es ward Licht.
Und Gott sprach: Es werden Lichter am Himmel. Und es geschah so.
Gott sprach: Es werde. Und es ward.

Jesus und Matthäus erinnern mich an die allererste Geschichte in der Bibel. Gott erschafft die Welt durch sein Wort. Genauso ist es hier bei Jesus und Matthäus: Jesus spricht. Sein Wort wirkt. Sofort.

Er spricht wie an dem Tage, da er die Welt erschuf. Da schweigen Angst und Klage, nichts gilt mehr als sein Ruf. Das Wort der ewgen Treue, die Gott uns Menschen schwört, erfahre ich aufs Neue, so wie ein Jünger hört. (EG 452,2)

Matthäus folgt Jesus.

Und es begab sich, als er zu Tisch saß im Hause, siehe, da kamen viele Zöllner und Sünder und saßen zu Tisch mit Jesus und seinen Jüngern.

Zu Jesus kamen die Leute gerne. Und Matthäus, der Zöllner, dürfte schnell erkannt haben, dass er nicht der einzige schräge Vogel war: Er fand sich in bester Gesellschaft mit „vielen Zöllnern und Sündern“. Nicht er allein hatte sich verfangen in einem Leben.


Neulich war ich in Rostock. Da entdeckten wir einen besonderen Laden. Mehrere Drehständer mit Spruchkarten. Nichts Frommes. Wir kamen aus dem Lachen gar nicht mehr heraus. Wie gut, dass uns niemand kannte. Eine Karte habe ich mir gekauft: Aufgeben kannst du bei der Post.

Jesus gibt keinen auf.
Keinen Menschen.
Keine kleiner werdende Gemeinde.
Keinen kleiner werdenden Kirchenkreis.
 
Wenn wir das doch spüren könnten! Und wenn das andere nur ein wenig spüren könnten durch uns! Dann werden wir inwendig stark.

Denn wir sind gesehen. Immanuel, Jesus, heißt der, der uns sieht. "Gott mit uns" bedeutet ja sein Name. Jesus ist da. Und die Gemeinschaft der Gemeinden ist da. Und die Gemeinschaft der drei Kirchenkreise. Und Menschen sind da, denen es wichtig ist, die Gemeinden im Übergang zu begleiten.

Wir lassen los und wir empfangen. Vielleicht ist das überhaupt das Wichtigste.

Elke Rosenthal, Superintendentin des Kirchenkreises Arnstadt-Ilmenau
(Predigt im Festgottesdienst zum Übergang der Gemeinden Gräfenroda-Gehlberg, Frankenhain, Liebenstein und Geschwenda aus dem Kirchenkreis Waltershausen-Ohrdruf in den Kirchenkreis Arnstadt-Ilmenau, Gräfenroda, 5.02.2023)